Ein neuer Lebensabschnitt beginnt


Am Sonntag, 23.01.2000 waren wir wieder zu Besuch bei Familie Wirth in Bretten. Das sind meine Schwester Petra, deren Mann Martin, die Tochter Jennifer und die beiden Söhne Adrian und Bastian. An diesem Abend wollte Melanie Ihrer Schwägerin ihren inzwischen ziemlich dick gewordenen Bauch zeigen. Nicht etwa, weil Melanie zu sehr der Lust gefrönt hatte, Süßigkeiten zu essen. Sondern eher, weil der errechnete Entbindungstermin der 27.01.2000 war.

So diskutierten Melanie und Petra also über die Dauer von Schwangerschaften und darüber, daß Melanie ein wenig neidisch sei, weil die Geburt von Petra's ältestem Sohn kaum mehr als eineinhalb Stunden gedauert hatte.

Anscheinend bewirkte dieses Gespräch irgendetwas, vielleicht wäre es aber ohnehin so gekommen. Denn obwohl wir noch darüber sinnierten, ob dies nun das letzte Wochende zu zweit sei oder erst das nächste, passierte es in der folgenden Nacht: ein leichter Druck machte sich in Melanie's Bauch bemerkbar. Nicht stark genug, als daß wir gleich ins Krankenhaus fahren mußten, aber doch anhaltend. Obwohl das ‚Unwohlsein' besonders ab 04 Uhr Melanie's Schlaf rauben konnte, ging ich am nächsten Morgen zur Arbeit und meine Frau zum vereinbarten Termin bei Ihrer Frauenärztin Dr. Klett.

Als gegen 10:30 Uhr mein Telefon klingelte, zuckte ich unwillkürlich an meinem Schreibtisch etwas zusammen. Eine Mischung aus Vorfreude, Unsicherheit, ja, sogar etwas Angst breitete sich in diesen Sekunden in meinen Gedanken aus. Trotzdem nahm ich den Hörer ab und wie vermutet (oder befürchtet?) war es Melanie, die mir von ihrem Arztbesuch erzählen wollte. Den Tränen nah berichtete sie mir, daß noch an diesem Tag unser Kind auf die Welt kommen sollte und wir sofort ins Krankenhaus fahren müßten.

So war das also! So fühlt es sich also an, wenn etwas, auf das man sich monatelang vorbereitet hatte und lange Zeit immer in weiter Ferne wähnte, unweigerlich und endgültig eintritt. Beinahe wie in Trance legte ich den Hörer auf, führte zwei bis drei Telefonate, um mich für den Rest dieses und des nächsten Tages zu entschuldigen und machte mich auf den Weg. Später erzählte man mir, wie man gar nicht fassen konnte, wie ruhig ich in diesem Moment geblieben war. Schließlich würde ich bald zum ersten Mal Vater werden. Niemand konnte in dem Moment auch nur erahnen, wie es unter der Oberfläche aussah. Selbst jetzt, da ich versuche, meinen damaligen Zustand in Worte zu fassen, fällt mir nur ein Ausdruck ein: brodelnde Leere!

Nach unserem Telefonat trafen Melanie ich uns zu Hause und waren bald samt der schon vor Monaten gepackten Reisetasche an der St. Marienklinik angekommen. Von der Fahrt selbst weiß ich kaum noch etwas. Gefahren bin ich, gesprochen wurde, glaube ich, nicht viel. Wir dachten, Melanies Ärztin hätte uns bereits angemeldet, doch dem war nicht so. Also sagten wir dem Empfang brav unsere Namen und warum wir hier seien. Wir wurden zum Bereich ‚werdende Mütter‘ direkt vor den Kreissaal geschickt. Jetzt war es (bezeichnenderweise) kurz vor 12 Uhr. Kaum hatten wir es uns bequem gemacht, sprach uns die diensthabende Hebamme an. Sie interessierte sich für die Stärke der Wehen und in welchen Intervallen sie kämen. Melanie meinte, daß die Schmerzen mal stärker, mal schwächer seien, in unregelmäßigen Abständen von 5 bis 10 Minuten. Und nachdem der Empfang bereits erwähnt hatte, daß alle Zimmer belegt seien, meinte nun auch die Hebamme, daß sie zwar untersuchen, uns danach jedoch wieder heimschicken würde, da es noch viel zu früh wäre. Außerdem sei im Moment eh‘ kein Bett frei. Später würde sie zugeben müssen, wie sehr sie sich geirrt hatte!

Melanie und ich dachten uns in dem Augenblick nur, was interessiert es unser Baby, ob ein Bett frei ist oder nicht. Wenn es kommen will, kommt es. Also warteten wir geduldig auf die angekündigte Untersuchung. Unterdessen beobachteten wir wieder die werdenden Mütter, die uns bereits bei der Ankunft aufgefallen waren. Drei oder vier saßen, standen oder liefen umher und trugen – nicht ohne Stolz, möchte ich behaupten – ihr ‚Bäuchlein‘ vor sich her. Eine von ihnen wartete sogar schon seit mehreren Stunden ...

Gegen halb eins wurden wir zur Untersuchung gerufen. So weit sei alles in Ordnung, meinte die Hebamme munter plaudernd und schloß den Wehenschreiber an. Sie sei noch nicht lange im Krankenhaus, war bis jetzt freischaffend, würde auch Nachuntersuchungen machen, blablabla ... Und ob Melanie irgendeinen Wunsch hätte. Prompt erhielt sie zur Antwort, ein Fleischkäs-Weck mit Ketchup wäre nicht schlecht. Während also der Wehenschreiber begann, die immer stärker werdenden Wehen in immer regelmäßigeren Intervallen zu schreiben, schickte mich die Hebamme zum Kiosk, um meiner Frau den Fleischkäs-Weck mit Ketchup zu holen. Als ich damit um 13:10 Uhr zurück kam, wußte inzwischen Melanie, was Wehen sind und die Hebamme, daß sie sich geirrt hatte und das Baby in maximal drei Stunden auf der Welt sein würde.

Von jetzt an ging alles sehr schnell – viel zu schnell, als daß wir uns hätten darauf vorbereiten können. Wir wurden in den Kreissaal geleitet, den ich mir völlig anders vorgestellt hatte: viel steriler, voller blinkender Edelstahlschüsseln und medizinischen Geräten und Lampen. Weder Melanie noch ich hatten jemals einen Kreissaal aus der Nähe gesehen. Es war eher wie im Zimmer einer durchschnittlichen Arztpraxis. Als wir hörten, daß Melanies Belegschaftsarzt gerufen worden war, wurde uns bewußt, daß es bald so weit sein würde. Leicht ungläubig fragte Melanie, ob es denn wirklich so weit wäre. Während meine Frau auf dem Bett lag, welches ihr Entbindungsbett werden würde, aß ich den Rest des Fleischkäs-Wecks mit Ketchup auf, den Melanie wegen den stärker werdenden Wehen nicht mehr wollte.

Kaum hatte ich den letzten Bissen verschlungen, war auch schon der Arzt da. Sofort begannen die letzten Vorbereitungen: ein Tropf wurde bereit gestellt, die Fruchtblase wurde geöffnet, dann postierte ich mich bei meiner Frau, die inzwischen eine einigermaßen bequeme Liegeposition eingenommen hatte. Die erste Preßwehe kam und zwischen dem Stöhnen meiner Frau glaubte ich gute Ratschläge des Arztes und beruhigende Worte der Hebamme zu hören. Irgendwie versuchten wir gemeinsam, das in mehreren Sitzungen Schwangerschaftsgymnastik angeeignete Wissen abzurufen. Einatmen, ausatmen, pressen, hecheln, wieder einatmen und wieder pressen. Nach der zweiten oder dritten Preßwehe war das Köpfchen zu sehen. Gebannt starrte ich darauf und ich ließ mich nicht zweimal bitten, als die Hebamme fragte, ob ich es anfassen wolle. Dabei nahm ich etwas wahr, das mich dazu veranlaßte, Melanie an meine gewonnene Wette zu erinnern: Haare. Unser Baby hatte den Kopf voller Haare! Doch die gerade werdende Mutter hatte genug Mühe, einen Krampf, den sie gerade in der linken Hüfte bekommen hatte, zu bekämpfen. Jetzt kam der Arzt zu seinem Einsatz und er konnte den Krampf herausmassieren. Dann endlich, nach mehreren langen Schreien, die jede Preßwehen begleitet hatten, am 24. Januar 2000 um exakt 14:29 Uhr, war es geschafft: Janina war geboren.

Liebe Leserinnen und Leser, bitte lassen Sie mich hier kurz innehalten, um für meine unzulänglichen Worte und Formulierungen um Verzeihung zu bitten, mit denen ich versuche, ein solches Wunder zu beschreiben. Nur ein Poet, ein Dichter und Schriftsteller in einer Person, ein Künstler, dessen Wortschatz alle Kunstformen auf einmal umfassen müßte, wäre hier vonnöten.

So bleibt mir nur eines: mich vor dem Wunder des Lebens zu verbeugen. Ich hatte das Privileg, in dem Augenblick Zeuge sein zu dürfen, als Janina in ganzer Pracht vor uns lag. In dieser Sekunde war ich glücklich. Ich hätte heulen können! Die Hebamme bot mir die Schere an, ich schnitt die Nabelschnur durch, fast mechanisch. Zeit, Körper und Geist hatten ihre Bedeutung verloren und schienen sich auf das Zentrum der Welt zu konzentrieren: Janina. Als sie schließlich vor mir auf meinem Schoß lag, so neu, winzig und wehrlos, erwachte ein ganz neues Gefühl in mir: ich bin Papa!

Eine Weile später – es hätte genauso gut sechs Uhr abends wie ein Uhr morgens sein können – bekamen Melanie und Janina endlich ihr Zimmer zugewiesen. Es war gegen halb fünf nachmittags. Auf dem Weg dorthin erhielten wir die ersten Glückwünsche von denen, die wir bereits bei der Ankunft beobachtet hatten und die noch immer auf ihre bevorstehende Entbindung warteten. Auf einmal betrachtete ich diese Leute auf eine verständnisvollere Art wie noch vor wenigen Stunden. Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen ...



- Ende –


zurück